Mehrheit sieht eine Spaltung der Gesellschaft

Studien der vergangenen Monate zeigen, dass eine breite Mehrheit der befragten Österreicherinnen und Österreicher von einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft ausgeht. Das ist eine potentielle Gefahr für den sozialen Frieden und die Demokratie in Österreich.

Die Nationalratswahl 2017 und das Landtagswahljahr 2018 wurden in gewohnter Manier von verschiedenen Bevölkerungsumfragen begleitet. Die Daten der ORF-Wahltagsbefragung liefern dabei einen Befund, der über die klassischen Wähleranalysen hinausgeht und bislang in der Öffentlichkeit noch wenig Beachtung fand. In den Studien wurden die Österreicherinnen und Österreicher gefragt, inwiefern sie der Aussage „Ich mache mir große Sorgen, dass sich unsere Gesellschaft immer weiter auseinanderentwickelt“ zustimmen. Im Oktober 2017, also rund um die Nationalratswahl, stimmten 42 Prozent der Wahlberechtigten dieser Aussage sehr zu und weitere 27 Prozent konnten diesem Befund ziemlich zustimmen. 18 Prozent gaben an, dass sie nur wenig zustimmen und 11 Prozent stimmten ihr gar nicht zu. Die Ergebnisse aus den Bundesländern, in denen in den vergangenen vier Monaten gewählt wurde, zeigen ein sehr ähnliches Bild. Auch in Niederösterreich, Tirol, Kärnten und zuletzt in Salzburg stimmte eine Zweidrittel-Mehrheit dieser Aussage sehr oder ziemlich zu.

 

„Ich mache mir große Sorgen, dass sich unsere Gesellschaft immer weiter auseinanderentwickelt“

Anmerkung: w.n./k.A. = weiß nicht / keine Angabe; telefonische Befragung; max. Schwankungsbreite +/- 2,8 Prozentpunkte; Bund: Feldzeit 12. bis 15.10.2017, n=1.219; Niederösterreich: Feldzeit 25. bis 28.1.2018, n=1.208; Tirol: Feldzeit 22. bis 25.2.2018, n=1.1210; Kärnten: Feldzeit 1. bis 4.3.2018, n=1.224; Salzburg: Feldzeit 19. bis 22.2018, n=1.231. Grafik: Katrin Praprotnik Quelle: ISA/SORA Wahltagsbefragung im Auftrag des ORF.

 

Die Motive, warum die Österreicherinnen und Österreicher so empfinden, gehen aus diesen Daten nicht hervor. Sie sind sicherlich vielfältig und schließen sowohl wirtschaftliche Faktoren (etwa die Verteilung von Einkommen), gesellschaftliche Faktoren (etwa das Verhältnis zwischen Einheimischen und MigrantInnen) als auch politische Faktoren (etwa die Regelungen des Sozialstaates) mit ein. Zudem kann es sein, dass die Spaltung der Gesellschaft objektiv begründet wird oder „nur“ subjektiv als solche wahrgenommen wird. Die Tatsache, dass eine große Mehrheit eine wachsende Kluft in der österreichischen Gesellschaft sieht, ist jedenfalls unabhängig davon relevant. Ein solcher Befund stellt eine potentielle Gefahr für den sozialen Frieden im Besondern und unser demokratisches System im Allgemeinen dar. Eine funktionierende repräsentative Demokratie lebt vom respektvollen Diskurs miteinander, von der Solidarität zwischen den Gruppen und der Teilhabe der Gesellschaft am politischen Prozess.

Freilich kann die Politik in einem demokratischen System den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht erzwingen oder gar verordnen. Sie kann ihn aber sicherlich beeinflussen. Wir dürfen gespannt sein, wie sich die Staats- und Regierungsspitze in nächster Zeit und ohne anstehende Wahlkämpfe verhalten werden. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hatte jedenfalls einmal angekündigt, ein Präsident für alle zu sein und auch Bundeskanzler Kurz versprach in seiner Regierungserklärung ein „Comeback für Österreich“ auf das alle stolz sein und von dem alle profitieren können. Wenn spätestens rund um die Wahlen zum Europäischen Parlament im kommenden Jahr 2019 neue Daten vorliegen, werden wir beurteilen können, ob die Politik in diesem Sinne Erfolg hatte.