Evidenz-basierte Politik in Österreich

Auch in Österreich erfreut sich das Konzept der evidenz-basierten Politikgestaltung zumindest rhetorisch zunehmender Beliebtheit. Nichtsdestotrotz spielen WissenschafterInnen und ihre wissenschaftliche Expertise bis heute eine eher untergeordnete Rolle. Interessen-basierte Politikgestaltung und Interessenvermittlung im Rahmen der Sozialpartnerschaft dominieren politische Prozesse und deren Inhalte. 

Nicht erst seit der Diskussion um das Rauchverbot in Lokalen stellt wissenschaftliche Expertise einen Referenzpunkt in öffentlichen Debatten dar. Gerade bei komplexen Themen, wie Klimawandel, Gentechnik oder Biotechnologie, beziehen sich verschiedenste Akteure auf wissenschaftliche Studien oder die Aussagen von WissenschafterInnen, um ihre Argumente und Forderungen zu untermauern. In einigen europäischen Staaten, wie beispielsweise den Niederlanden oder Großbritannien, erfreut sich wissenschaftliche Expertise als Ausgangspunkt von politischen Prozessen und als Basis von Politikinhalten – häufig subsummiert unter dem Schlagwort „evidence-based policy-making“ – zunehmender Beliebtheit. Mit der Gründung einer Stabsstelle für Strategie, Analyse und Planung im Bundeskanzleramt, die den Namen Think Austria trägt, soll diese evidenz-basierte Form der Politikgestaltung nun auch in der österreichischen Regierungspolitik verstärkt Fuß fassen. 

Doch wie gestaltet sich die Rolle wissenschaftlicher Expertise in österreichischen Politikprozessen bisher? Grundsätzlich steht den österreichischen PolitikerInnen und anderen politischen Akteuren, wie Interessenverbänden oder Nichtregierungsorganisationen, ein breites Spektrum an wissenschaftlicher Expertise zu unterschiedlichsten Themen zur Verfügung. Universitäre und außeruniversitäre Forschungsinstitute aus dem In- und Ausland, die von Universitäten und Fachhochschulen bis zu Think Tanks und Ressortforschungseinrichtungen reichen, erarbeiten fundierte Forschungsergebnisse, die für die österreichische Politik grundsätzlich von hoher Relevanz sind. 

Studien zeigen jedoch, dass der Einfluss wissenschaftlicher Expertise auf die Politikinhalte in Österreich meist eher eingeschränkt ist. Die österreichische Politikberatungslandschaft ist geprägt vom Einfluss der österreichischen Verwaltung und Sozialpartner, die feste Sitze in den zumeist politisch oder politisch-wissenschaftlich besetzten Beratungsgremien haben. Darüber hinaus ist die Bedeutung einiger weniger Wirtschaftsforschungsinstitute (bspw. WIFO und IHS) und der Ressortforschungseinrichtungen (bspw. Umweltbundesamt) sehr groß. Andere wissenschaftliche Akteure können ihre Expertise nicht so einfach in den politischen Prozess einbringen, da sie mit den genannten Akteuren und deren privilegierten Zugängen zum politischen System konkurrieren. Rein wissenschaftliche Beiräte sind in Österreich, im Gegensatz zu anderen Ländern, wie den USA oder Deutschland, äußerst selten.  

Der eingeschränkte Einfluss auf Politikinhalte spiegelt sich auch in den Rollen, die wissenschaftliche Expertise in politischen Prozessen häufig einnimmt: Oftmals steckt wissenschaftliche Expertise ausschließlich den Rahmen für politische Aushandlungsprozesse zwischen dem Staat und den Sozialpartnern ab, beispielsweise in Form von Grenzwerten die nicht über- oder unterschritten werden sollten. Sie ist somit den eigentlichen politischen Verhandlungen vorgelagert. In den eigentlichen Verhandlungsprozessen orientieren sich die Akteure dann insbesondere an ihren jeweiligen politischen und ökonomischen Interessen und streben nach Konsens und Interessenausgleich. Sofern wissenschaftliche Expertise nicht den Rahmen für sozialpartnerschaftliche Verhandlungen absteckt, wird wissenschaftliche Expertise oftmals als Instrument zur Überzeugung der anderen Akteure in solchen Aushandlungsprozessen genutzt. Immer wieder kommt es vor, dass von den unterschiedlichen Akteuren Studien in Auftrag gegeben werden. Diese Studien werden dann als Expertise und Gegenexpertise durch Verwaltung und Sozialpartner in politische Verhandlungen eingebracht, um bestimmte politische und ökonomische Ziele zu erreichen oder zu verhindern. Außerdem findet sich in Österreich im Rahmen sozialpartnerschaftlicher Verhandlungen oftmals eine strategische Nutzung von Expertise. D.h. nur spezifische wissenschaftliche Aussagen, die die eigene Position unterstützen und der Durchsetzung der eigenen Interessen dienen, werden selektiv und manchmal ohne Berücksichtigung des (Entstehungs-)Kontextes durch die Akteure in den Politikprozess eingebracht. Diese durch sozialpartnerschaftliche Strukturen eingeschränkte Rolle von wissenschaftlicher Expertise führen ForscherInnen in vielen Fällen auf die traditionelle österreichische politische Kultur und neo-korporatistische Interessenvermittlung zurück. 

Nichtsdestotrotz zeigen Studien zu einzelnen Politikfeldern immer wieder Beispiele auf, in denen wissenschaftlicher Expertise eine größere Rolle eingeräumt wird bzw. WissenschafterInnen proaktiv wissenschaftliche Expertise für politische Prozesse bereitstellen, um ihre Expertise einzubringen. Beispielweise etablieren sich neben den klassischen wissenschaftlichen Institutionen in Österreich zunehmend private Think Tanks und Beratungsagenturen als Anbieter wissenschaftlicher Expertise zu wirtschaftspolitischen Themen. Im Kontext der österreichischen Klimapolitik versuchen ForscherInnen ihre Expertise im Rahmen eines Netzwerks zu bündeln und verstärkt aktiv an politische Akteure zu kommunizieren. Ein weiteres Beispiel für den Einbezug von WissenschafterInnen in Politikprozesse stellt die Gründung der rein wissenschaftlich besetzen Bioethik-Kommission als Beratungsorgan des Bundeskanzlers dar. Auch im Rahmen von partizipativen Prozessen, die sich gerade zunehmender Beliebtheit erfreuen, wird WissenschafterInnen von Zeit zu Zeit ein fester Platz – und eine zumindest begrenzte Rolle – eingeräumt. Ob sich aus diesen aktuellen Beispielen, zu denen auch die Etablierung der Stabstelle im Bundeskanzleramt zu zählen ist, ein allgemeiner Trend der zunehmenden Integration von wissenschaftlicher Expertise in Politikinhalte und somit ein Wandel der „österreichischen Beratungskultur“ ableiten lässt, ist allerdings fraglich.