Demokratieerwartungen in ländlichen Regionen. Ein Dolomit Live Interreg-Projekt.

Im August 2021 wurde in einem ADL-Blogtext über ein Dolomiti Live Interreg-Projekt zu den Erwartungen der Bürger*innen an Demokratie geschrieben. Kurz darauf fanden die darin beschriebenen Gesprächsrunden von Menschen in den Regionen Osttirol sowie Pustertal und Alto Bellunese (beide in Italien) statt, deren Auswertung nun vorliegt.

Hauptziel des Forschungsprojektes „Was bedeutet Demokratie für mich?“ war es, die Erwartungen, Meinungen, Erfahrungen sowie Bedürfnisse der Bürger*innen der drei ausgewählten Regionen zum Thema Demokratie zu erheben und eine längerfristige Diskussion darüber anzuregen.

Demokratieerwartungen in Osttirol

Ausgangspunkt für die Fragestellung in den Osttiroler Gesprächsrunden waren unter anderem Umfragen wie der Demokratieradar des Austrian Democracy Labs, die zeigen, dass das Vertrauen der österreichischen Bevölkerung in das Funktionieren der Demokratie deutlich gesunken ist. In Gesprächsrunden sollte festgestellt werden, ob das auch für ländliche Regionen wie Osttirol zutrifft, und was dagegen getan werden könnte, zumal solch eine Unzufriedenheit auch ein Abwenden der Bevölkerung von politischen Prozessen per se bedeuten kann.

Insgesamt nahmen ca. 60 Personen an den drei Osttiroler Diskussionsrunden teil, wobei es zusätzlich einige inoffiziellere Gesprächsrunden gab, zum Beispiel mit Vertreter*innen der Dorfjugend. Die Osttiroler Workshops fanden in den Ortschaften Hopfgarten, Leisach und Abfaltersbach statt, doch zu jedem Termin kamen jeweils Gemeindebewohner*innen sowie Personen aus anderen Gemeinden (auch außerhalb des Bezirks).

Die Gespräche an den Tischen wurden mitgeschnitten, transkribiert und ausgewertet. Beim Einladen wurde auf ein möglichst ausgewogenes Verhältnis von Alter, Geschlecht, Herkunft, Ausbildung und Beruf geachtet. Hier zeigte sich bereits das erste Ergebnis: Alle Angesprochenen fanden das Projekt wichtig, doch sich persönlich bei einer Demokratiediskussion und damit als „politisch“ eingestuften Veranstaltung zu zeigen, wurde zuweilen abgelehnt, da man nicht wolle, dass „die anderen“ wissen, wie man denkt. Dieses Argument des gesellschaftlichen Drucks kam auch in den Diskussionen selbst immer wieder zur Sprache.

Gegenstände als Demokratiesymbole zu Diskussionsbeginn

Wie in den anderen Regionen wurden die Teilnehmer*innen Im Vorfeld gebeten, einen Gegenstand mitzubringen, der für sie Demokratie symbolisiert. Diese Objekte reichten von alten Ausweisen über Blumen („für das sensible Pflänzchen Demokratie“) bis hin zu selbsterklärenden Gegenständen wie einem Mikrophon, einem Würfel, einer Uhr, einem Wahlzettel, Puzzleteilchen, Spielfiguren in den Parteifarben, schwieriger zu interpretierenden Objekten wie einem Kopfpolster („um es sich beim politischen Diskutieren gemütlich zu machen“) oder auch Bälle zum Jonglieren („Demokratie als Balanceakt“). Manche wurden beklatscht, andere regten lange Diskussionen an, darunter eine Stimmgabel, die zu der Diskussion passte, wer in der Bevölkerung eine Stimme haben soll oder auch nicht, und wie man diese einsetzen könnte. Dazu ist wichtig zu erwähnen, dass auch Personen teilnahmen, die zwar in Osttirol leben, dort aber kein Wahlrecht besitzen. Das Wahlrecht wurde nicht zuletzt deswegen zu einem der großen Themenbereiche. So war man sich einig, dass dieses ausgeweitet werden müsse, vor allem auf regionaler Ebene.

Wichtiger aber, so hörte man fast unisono, sei die Partizipation, und davon gebe es zuwenig; nicht, weil wenige Möglichkeiten dafür existieren, sondern eher, weil kaum jemand die Initiative ergreift. Am Stammtisch würden alle reden, schimpfen, Ideen haben – doch wenn es darum gehe, diese nach außen hin zu vertreten, seien viele Bürger*innen (auch man selbst) „zu bequem“. Als es um die Frage ging, ob man selbst in die Politik gehen würde, schloss sich der Kreis: Nein, Politik sollen andere machen, wurde gesagt, auch wenn man wisse, dass man diese anderen immer seltener finde und man mit diesen häufig nicht einverstanden sei.

Das beste System?

Dennoch war man sich einig, dass die Demokratie das aktuell beste System darstelle und es nicht darum gehe, sie abzuschaffen, sondern auszubauen. Man sah viel Arbeit vor sich, aber eher notwendige Verbesserungen als eine „Rettung der Demokratie“. Dennoch zeigten sich einige Teilnehmer*innen in Sorge um die Demokratie. So sagte nicht nur eine Person, er*sie fühle sich nicht mehr demokratisch vertreten.

Eines der großen Schlagworte bildete die Meinungsfreiheit. Sie wurde als eine der wichtigsten Säulen der Demokratie angegeben, gefolgt von Pluralität, Menschenrechten und einem gewissen Wohlstand, der – so war man sich einig – nur in einer Demokratie möglich sei. Freiheit (im Gegensatz zu Meinungsfreiheit) wurde nicht nur positiv besprochen, sondern als zuweilen egoistisch definiert, indem man Rechte einfordere, aber nicht bereit sei, Pflichten dafür in Kauf zu nehmen. Hier gab es eine Parallele zu Stammtischdiskussionen: Meist sind es „die anderen“, die keine Pflichten annehmen wollen oder keinen Sinn für (Eigen-)Verantwortung oder „soziales Denken und Handeln“ hätten, wie es mehrfach formuliert wurde.

Gemeindepolitik als Wiege der Demokratie

Leidenschaftlich wurde es, sobald es um Gemeindepolitik ging. Demokratie, so war man sich weitgehend einig, beginne auf dort. Man solle sich nicht einfach berieseln lassen, sondern aktiv teilnehmen. Dass dies nicht immer im Sinne der Regionalpolitiker*innen sei, weil es für diese den politischen Alltag kompliziere, müsse geändert werden. So waren insbesondere die Punkte, dass man der Bevölkerung in der eigenen Gemeinde nicht zuhöre und vor allem Projekte von Verbündeten fördere, während die Jugend oder Andersdenkende leer ausgingen, eine immer wiederkehrende Kritik. Einige Teilnehmer*innen zeigten sich schockiert von Gemeinderatssitzungen, denen sie beigewohnt hatten. In der Folge kam man in nahezu jeder Gesprächsgruppe auf politische Bildung zu sprechen. Diese sollte erhöht werden, nicht zuletzt auch für Politiker*innen, denen zuweilen demokratiepolitisches Wissen fehle. Nur mit mehr Bildung würden sich die Menschen auch mehr einbringen.

Generell zeigte sich in den Diskussionsrunden, was sich auch in Umfragen immer wieder bestätigt: Das Image von Politiker*innen ist dramatisch schlecht. Während jenen auf Bundesebene immer wieder Unehrlichkeit vorgeworfen wurde, kritisierte man die Regional- und Lokalpolitiker*innen vor allem dafür, Eigeninteressen zu bedienen und zu lange im Amt zu bleiben. So wurde der Vorschlag gemacht, nur zwei Perioden lang zu bleiben. Es gebe zu viel Streit, zu wenige Kompromisse, bloß weil es der Parteimeinung entspreche. Parteien hätten generell zu viel Macht und es solle nicht sein, dass man ihnen die Politik in Zukunft überlasse, wurde festgehalten. Man solle durchaus „auf den Tisch hauen“ und sich Gehör verschaffen, hieß es nicht selten.

Nicht zuletzt deshalb – so der allgemeine Vorschlag – solle die Zivilgesellschaft mehr eingebunden werden bzw. sich selbst einbinden und nicht erst auf Einladung „von oben“ warten. Junge Bürger*innen wiederum sollten – so wurde nicht nur von den jüngeren Teilnehmer*innen eingefordert – besser in das politische Leben integriert werden und somit Lust aufs Mitmachen bekommen.

Mehr Zuhören und mehr Mündigkeit

Gefragt, was man möglichst nicht wolle, war man sich einig wie bei kaum einer anderen Frage: die illiberale Demokratie und die Passivität der Bürger*innen, nicht wählen zu gehen. Mehrere Gesprächsgruppen, forderten, dass man Demokratie wieder ernster nehmen müsse, und man wünschte sich Politiker*innen, mit denen man reden kann, die glaubwürdig sind und nicht lügen, während man andererseits auch als Wähler*in mündig sein müsse.

Der Umstand, dass vielen Teilnehmer*innen bewusst war, dass Rechte auch Pflichten bedeuten und dass die Kommunikation in einem demokratischen Miteinander stets in beide (oder mehr) Richtungen gehen müsse, zeigt, dass jene, die zu den Diskussionsrunden kamen, sich entweder schon vorher oder aber aufgrund der Diskussionen, intensiv mit dem Thema Demokratie auseinandergesetzt hatten. Das wiederum passt zu den im Vorfeld geführten, semistrukturierten Interviews, bei denen Personen, die vor den Interviews sagten, sie seien nicht an Politik interessiert, anschließend feststellten, sie hätten wegen des Interviews begonnen, sich zu informieren, vor allem aber mehr über Politik und Demokratie zu reden. Nach den Gesprächsrunden war ein ähnliches Feedback zu hören. Insofern kann die wesentliche Schlussfolgerung nur lauten: Gelegenheiten zum Austausch, zum Reden und zum Zuhören zu schaffen, und dies als Hol- und als Bringschuld zu verstehen, wie es in mehreren Diskussionsrunden formuliert worden ist.

 

Zur exakten Methode, mehr zu den Ergebnissen auch der anderen Regionen sowie die daraus resultierenden Empfehlungen siehe hier.

Danke an die Kolleg*innen in Südtirol (dem Team von Elisabeth Alber) und jenem in Alto Bellunese um Antonio Vesco sowie Gina Streit vom Regionsmanagement Osttirol, die das Projekt ermöglicht hat.